„Schuldig und unschuldig zugleich“

Sun, 20 Sep 2015 10:52:11 +0000 von Ralf Neite

Ralf Rothmann eröffnet die zweite Spielzeit im Literaturhaus St. Jakobi

Hildesheim. „Die Väter haben saure Trauben gegessen, und den Kindern werden davon die Zähne stumpf.“ Diesen Vers aus dem 18. Kapitel des Propheten Ezechiel hat Ralf Rothmann seinem aktuellen Roman „Im Frühling sterben“ vorangestellt. Wie wahr die biblischen Worte sind und wie sehr sie insbesondere auf die Weltkriegsgeneration sowie deren Kinder und Enkel zutrifft, wurde beim Auftakt zur zweiten Spielzeit der Literaturkirche St. Jakobi Hildesheim deutlich. Ralf Rothmann konfrontierte das Publikum in der vollbesetzten Kirche mit einer Geschichte aus den letzten Kriegstagen 1945 und dem Schweigen, das die Erlebnisse nach sich gezogen haben.

Es sei ein Buch „über das Vakuum, das das Schweigen hinterlässt“, präzisierte Rothmann. Mit dem Roman habe er seinem Vater ein Denkmal setzen wollen – einem Mann, der erst im Weltkrieg und dann im Wirtschaftswunder (als Bergmann) verheizt worden sei. Manche LeserInnen hätten ihm gesagt, es sei ein Denkmal für eine ganze Generation geworden.

Unter den stilisierten Bäumen des eindrucksvollen neuen Bühnenbilds in St. Jakobi – das Oberthema der zweiten Spielzeit heißt „Wald“ – befragte die Kulturjournalistin Susanne Utsch den Autor nach der Lesung zu Arbeit, Familie, Vergangenheitsbewältigung und Schuld. Ralf Rothmann antwortete mit einer lakonischen und gerade dadurch packenden Offenheit. „Mir ging es nicht um eine historische Genauigkeit, mir ging es um eine mythische Genauigkeit“, sagte er über seinen Roman, den er wie all seine Bücher nachts und im Liegen geschrieben habe.

Ob sich die Hauptfigur von „Im Frühling sterben“ nun eigentlich schuldig gemacht habe, wollte Susanne Utsch wissen. Ralf Rothmann brauchte nicht lange nachzudenken, es sei doch ganz klar: „Wir sind in jedem Augenblick unseres Leben schuldig und unschuldig zugleich.“ Der Schriftsteller fügte hinzu: „Man kann diesen Zustand nur aushalten, indem man ihn erkannt.“

Es war ein leiser, intensiver, gelungener Auftakt ins zweite Jahr des Literaturhauses. Mal sehen, was Intendant Dirk Brall noch alles aus den Tiefen des Waldes hervorholt. Im Oktober startet auch neues geistliches Format, die Andachtsreihe „sacramentum“. Immer am ersten Freitag im Monat um 18 Uhr. Ralf Neite

Bilder:

Intendant Dirk Brall begrüßte das Publikum zur zweiten Spielzeit des Literaturhauses St. Jakobi Hildesheim.

Ralf Rothmann las aus seinem neuen Roman „Im Frühling sterben.

Stilisierte Bäumen bilden das eindrucksvolle neue Bühnenbild in St. Jakobi.

Die Journalistin Susanne Utsch im Gespräch mit Autor Ralf Rothmann.
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