Nationalismus in Europa – Historiker bleibt Optimist und vertraut auf die Mehrheit

Thu, 06 Apr 2017 16:03:39 +0000 von Ralf Neite

Prof. Dr. Alter bei Pfarrkonferenz im Kirchenkreis Hildesheim-Sarstedt

Sarstedt. Worauf ist der neu erstarkende Nationalismus in Europa zurückzuführen, wie kann man ihn geschichtlich einordnen und wie wird er sich voraussichtlich entwickeln? Der Historiker Prof. Dr. Peter Alter von der Universität Essen-Duisburg forscht seit vielen Jahren zum Thema Nationalismus. „Ich bin Optimist. Ich vertraue auf den gesunden Menschenverstand“, sagte er anlässlich eines Vortrages vor der Pfarrkonferenz des Kirchenkreises Hildesheim-Sarstedt im Sarstedter St.-Nicolai-Gemeindehaus.

Er halte es zwar für übertrieben und dramatisierend von einer Rückkehr des einstigen zerstörerischen Nationalismus zu sprechen, dennoch könne die Entwicklung die europäische Gemeinschaft an den Rand der Auflösung bringen. Nationalismus werde von Politikern dazu benutzt, von Problemen abzulenken und ihre Ziele durchzusetzen. Und mit bestürzender Naivität fielen immer wieder Bevölkerungen darauf herein: „Das können Sie nur resignierend zur Kenntnis nehmen und trotzdem optimistisch bleiben.“

Mit Spannung verfolgten die PastorInnen des Kirchenkreises den Vortrag. Die anschließende lebhafte Diskussion machte deutlich, wie facettenreich das Phänomen Nationalismus wahrgenommen wird, in Gesprächen im europäischen Ausland, aber auch in der eigenen Gemeinde. Bei der Abgrenzung früherer Einwanderer gegenüber neu zugezogenen Geflüchteten zum Beispiel oder in Aussagen älterer Gemeindeglieder: „Man kann jetzt ja endlich wieder sagen, was man denkt.“

Tatsächlich sei Nationalismus als Ideologie in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg aufgrund der verheerenden Erfahrungen offiziell rigoros abgelehnt und durch den Wunsch nach europäischer Integration ersetzt worden – unterschwellig habe es ihn aber immer gegeben, so Prof. Dr. Alter. Und es werde ihn wohl auch in jedem Land bei einem gewissen Prozentsatz der Bevölkerung immer geben. Immerhin habe der Nationalismus in seiner Entstehungsphase zu Beginn des 19. Jahrhunderts positive Auswirkungen gehabt, eine emanzipatorische Kraft entfaltet und zum Streben nach Selbstbestimmung und zu Staatenbildungen geführt. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sei das umgeschlagen in Feindschaft und Hass gegenüber allem Fremden. Gerade Deutschland habe die Nation besonders betont, um sich gegen die vielen Nachbarn ringsum abzugrenzen.

Dabei sei der Begriff „Nation“ durchaus schwer zu greifen, sei nach Ansicht mancher Historiker ein reines Konstrukt. Mal wird die Nation an der gemeinsamen Sprache festgemacht, mal am Glauben, an der gemeinsamen Geschichte oder Verfassung. Wer den Begriff Nationalismus scheue, ersetze ihn gern durch „Vaterlandsliebe“, „Patriotismus“ oder gar „Schicksalsgemeinschaft“.

Der Historiker ging auch auf das Verhältnis zwischen Religion und Nationalismus ein. Denn auffällig sei ja, dass Nationalisten sich religiöse Begriffe zu eigen machten: Sie bezeichnen die Nation als ewig und heilig, sprechen von Erlösung und machen Soldaten zu Märtyrern. Das bedeute aber nicht zwingend, dass Nationalismus sich dort mehr verbreite, wo die Religion weniger Platz einnehme, denn beide könnten auch eng miteinander verbunden sein – Beispiele seien Irland oder Polen.

Welches andere Band als der Nationalismus könne aber die Menschen in Deutschland zusammenhalten, ein Gefühl der Zusammengehörigkeit erzeugen? Hier zitierte Prof. Dr. Peter Alter den ehemaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck: auf die Wertegrundlage komme es an; nicht darauf, woher jemand stammt, sondern wohin er gehen will. „Ich glaube“, so Prof. Alter, „diese Haltung teilt die Mehrheit in Deutschland.“ Wiebke Barth
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