Kirche und Gefängnis zugleich

Tue, 12 Sep 2017 15:33:43 +0000 von Ralf Neite

Mit Feridun Zaimoglu und einem intensiven Abend startet das Literaturhaus St. Jakobi in seine vierte Spielzeit

„Alles entzündet sich am Wort.“ Dreimal sagt Feridun Zaimoglu diesen Satz. Einmal in Bezug auf Luther. Einmal über sich selbst. Und einmal ganz im Allgemeinen. „Alles entzündet sich am Wort“: Wie könnte man die neue, die vierte Saison des Literaturhauses St. Jakobi treffender eröffnen?

Zu jedem Auftakt im Literaturhaus gehört die Überraschung: Wie mag die Bühne aussehen? Immer ist sie ja aus dem Rahmen gefallen, stilisierte Wälder und Berggipfel waren es zuletzt. Jedes Jahr wird der Kirchenraum leergeräumt, um sich ihm neu zu nähern. Diesmal haben die Bühnengestalter Benjamin Gross und David Schnitter dem Jakobi-Intendanten Dirk Brall passend zum Spielzeit-Motto „Stadt“ eine hohe, dunkle Mauer quer vor den Altarraum gezogen. Schwarz angemalte Holzlatten werden zu Ziegeln einer Brandmauer, durch kleine Lücken dringt von hinten spärliches Licht. Davor rankt eine einsame, kleine Efeupflanze, hoch überm Lesetisch leuchtet eine Straßenlaterne.

Das Bühnenbild ist kompromissloser als all seine Vorgänger, weil es zwar den sakralen Charakter des Raumes erhält, erstmals jedoch den direkten Durchblick auf Altar und Kreuz verstellt. Nur durch kleine Ritzen lässt er diese beiden geheimnisvoll erkennen. An diesem Abend, als Feridun Zaimoglu seinen Roman „Evangelio“ vorstellt, ist die Mauer eine perfekte Kulisse. Der Roman spielt 1521 auf der Wartburg, wo Luther zu seinem Schutz festgehalten wird. Für die Dauer der Lesung ist St. Jakobi Kirche und Gefängnis zugleich – ein beeindruckendes und auch etwas bedrückendes Bild.

Bevor Zaimoglu aus „Evangelio“ liest, lässt er sich ausgiebig durch Joachim Dicks von NDR Kultur befragen: zu Luther, der die Stadt zur Verbreitung seiner Ideen brauchte, zu Zaimoglus Recherchen, zum Leben damals in Wittenberg, zum Schreibprozess. Der türkisch-stämmige Schriftsteller enthüllt, das Luther und Grimmelshausen „die Heroen meiner Jugend“ waren. Die Bibel zog der Moslem den Abenteuerbüchern vor, die die Lehrerin ihm zum Deutschlernen empfahl.

Wenn Zaimoglu über Luther spricht, sagt er oft „der Meister“. „Das war ein sprachgewaltiger Mann, so etwas kommt nur alle 200 oder 300 Jahre mal vor.“ Mehr als ein Jahr habe er intensiv für „Evangelio“ recherchiert, verrät Zaimoglu, sei den Spuren Luthers in und um Wittenberg gefolgt. Das Schreiben selbst sei bei ihm immer „eine Frage der Gärung, der Erhitzung, der Überhitzung, ja der Verrücktwerdung“, meint der Autor. Den Roman habe er tatsächlich in dreieinhalb Monaten „wie im Fieberwahn“ geschrieben. „Dann war ich fix und fertig.“

Den Erklärungen folgt ein Vortrag, der mehr theatrale Züge denn das Format einer normalen Lesung hat. Zaimoglu dehnt und rhythmisiert die Worte so sehr, verstärkt durch das Dirigat seines Zeigefingers, dass es schwer fällt, den Inhalt ganz zu entschlüsseln – zumal er eine Kunstsprache entwickelt hat, die sich am Deutsch des späten Mittelalters orientiert. Zaimoglu sagt: Man muss nicht alles verstehen – was zählt, ist das Bild, ist die Wirkung, die sich beim Lesen und Hören unweigerlich einstellt.

Es ist ein besonderer, intensiver Spielzeit-Auftakt in der von der Hanns-Lilje-Stiftung geförderten Kulturkirche. Selbst der erfahrene Moderator ist berührt von Zaimoglus Vortragsweise, So intensiv, dass einige Besucherinnen vorzeitig die Veranstaltung verlassen. Man darf es getrost als positives Zeichen werten. Der Großteil applaudiert lange. Ralf Neite

Bild:

NDR-Journalist Journalist Joachim Dicks befragte Feridun Zaimoglu zur Überhitzung beim Schreiben.
Quelle: Neite
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