Eine Geburtstagstorte für den Schrank

Thu, 02 Jun 2016 16:40:57 +0000 von Ralf Neite

Märchenfest für alle Generationen am Michaelisheim

Hildesheim. Girlanden sind zwischen den Häusern gespannt. Man hört Tassen klirren, hohe und tiefe Stimmen durcheinander reden. Es scheint, als finde auf dem Platz vor dem Michaelisheim ein riesiges Kaffeekränzchen statt. Es ist tatsächlich ein Fest: Ein Geburtstagsfest zu Ehren eines Schranks. Aber es geht dabei nicht um irgendeinen Schrank. Dieser hier ist von oben bis unten vollgestopft mit Geschichten.

So etwas gibt es inzwischen in fast jedem Teil der Stadt und diese öffentlichen Mini-Bibliotheken, genannt Bücherschränke, haben sich unterdessen vielerorts zu einem beliebten Treffpunkt entwickelt. Es hat sich unter BücherliebhaberInnen schnell herumgesprochen, dass (mit ein bisschen Glück) dort durchaus Schätze zu finden sind. Und zwar ganz umsonst! Wer möchte, kann zum Ausgleich seines Leseratten-Karmas selbst ein Buch dort hineinstellen. Der Bücherschrank, den der Freundeskreis des Michaelisheims in Verbindung mit der Quartiersarbeit Mittendrin initiiert hat, ist den Anwohnern und seinen „Bücherschrank-Paten“ inzwischen so sehr ans Herz gewachsen, dass sie beschlossen, zu seinem ersten Geburtstag dort ein großes Fest zu veranstalten.

„Geschichten“ sollten das Motto der Feier im Michaelis-Quartier sein. Und welche Geschichten eignen sich dafür besser als Märchen – den wohl ältesten erhaltenen Erzählungen, die wir kennen? Und vor allem: Die wir alle kennen. Das war auch der ausschlaggebende Grund, warum das Organisationsteam um Martina Sanden-Marcus sie zum Thema des Festes machte. Dessen BesucherInnen sind zum großen Teil jünger als sechs Jahre – oder aber älter als siebzig – und sie kommen von überall auf dem Planeten. Sie sitzen mit Kaffee, Saft und Kuchen auf Bierbänken und lauschen aufmerksam. Denn diese besonderen Geschichten, so Sanden-Marcus, sind interessant und lehrreich für Menschen aller Altersstufen und Kulturen. Rückendeckung für diese These bekommt sie unter anderem von den wohl berühmtesten Vertretern des Genres: den Brüdern Grimm. Sie waren überzeugt, dass Märchen in Inhalt und Erzählweise ein wichtiger Schlüssel zum menschlichen Wesen seien.

Natürlich sind unter den zahlreichen Märchen, die an diesem erzählt werden, ein paar Grimm-Klassiker, es gibt aber auch andere Geschichten aus aller Welt. Mal gelesen von Schülerinnen, die sich als Siegerin eines Vorlesewettbewerbs qualifiziert haben, als Lieder gesungen oder in einem Mix aus Erzählung und Musik, vorgetragen von Geschichtenerzählerin Erica Klinge. Sie hat neben deutschen Kindermärchen und nordischen Sagen auch indianische Geschichten im Gepäck.

Während man zusieht, wie SchülerInnen der Grundschule Alter Markt ein Trommelfeuerwerk der afrikanischen Art abfeuern, der Kindergarten St. Bernward die Geschichte Dornröschens als Tanznummer vorträgt und die BesucherInnen dazu klatschen wie auf einer Schlagerparty, bekommt man den Eindruck, dass die Veranstalter und die Brüder Grimm mit ihrer Meinung Recht haben und noch mehr: Dass über die Generationen hinaus die gemeinsamen Geschichten der Menschheit auch die Kulturen der Welt verbinden. Ein schönes Fest und eine bezauberndes Moral über die bezaubernde menschliche Natur, garniert mit reichlich Bienenstichkuchen und Schlagsahne. Wanja Neite

Bildunterschriften:

Die Wichtel-Band der Grundschule Alter Markt bereitet sich auf ihren Auftritt vor.

Foto: Wanja Neite

Die SchülerInnen der Grundschule Alter Markt lassen einen Trommelwirbel anheben. Foto: Wanja Neite

Die Kita St. Bernward entdeckt ihr Schlagerstar-Potential. Foto: Wanja Neite

Erzählerin Erica Klinge verbindet Geschichten und Musik. Foto: Wanja Neite

Als finde auf dem Platz vor dem Michaelisheim ein riesiges Kaffeekränzchen statt: Das Märchenfest am Bücherschrank. Foto: Spilker
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