Neues Buch über das Wirken Bugenhagens schließt Lücken und liest sich streckenweise wie ein Krimi
Hildesheim hat eine Bugenhagenstraße, einen Bugenhagenbrunnen, sogar eine Bugenhagen-Hochschule. Doch nur die wenigsten wissen, wer dieser Mann war und welche Bedeutung er für die Reformation hatte. Der Name Luther überstrahlt alles. Doch nach Norddeutschland – und sogar bis nach Dänemark und Norwegen hinauf – kam die Reformation durch Johannes Bugenhagen. Im Jahr 1542, also 25 Jahre nach Luthers Thesen-Veröffentlichung in Wittenberg, auch nach Hildesheim. Der neueste Band in der Schriftenreihe des Hildesheimer Heimat- und Geschichtsvereins füllt nun die Lücken.
Unter der Überschrift „Glaube sucht Ordnung – Hildesheim wird evangelisch“ erzählen die Autoren über diese turbulente Epoche und wie sie bis heute nachwirkt. Man sollte sich von dem etwas sperrigen Titel nicht täuschen lassen. Das 200-seitige Werk liest sich über weite Strecken wie ein Krimi. Politik und Religion trafen vor rund 500 Jahren vehement aufeinander, persönliche Interessen mischten sich hinein, Kriege verlangsamten die Entwicklung und beschleunigten sie wieder.
Als sich die Historikerin Barbara Meyer-Wilkens und die beiden Pädagogen Jürgen Oesterley und Ulrike Banafsche vor fünf Jahren an die Arbeit machten, ging es ihnen erst einmal darum, etwas längst Überfälliges nachzuholen: Sie wollten die Kirchenordnung, die Johannes Bugenhagen im September 1542 für Hildesheim geschrieben hat, aus dem mittelniederdeutschen Original ins heutige Deutsch übersetzen und damit der Allgemeinheit zugänglich machen.
Alle drei sind keine Sprachwissenschaftler und betonen, dass sie keinen wissenschaftlichen Anspruch erheben. In jahrelanger Arbeit und über mehrere Versionen näherten sie sich dem Text, wobei Ulrike Banafsche mit der Übersetzung des Vorworts von Antonius Corvinus die schwierigste Aufgabe zu meistern hatte. Eine große Hilfe war, dass sie im Internet ein vollständiges mittelniederdeutsches Wörterbuch entdeckte. Trotzdem gab es Probleme, die viel Zeit kosteten – etwa, wie das schlichte Wort „berichten“ zu verstehen sei. „Da haben wir uns richtig die Köpfe heiß geredet“, erzählt Barbara Meyer-Wilkens. Schließlich fand das Trio heraus, dass damit „belehren“ gemeint war. Mit der Arbeit an der Übersetzung sei die Faszination für Bugenhagen immer mehr gewachsen, sagt die Historikerin: „Man hat den Eindruck, er hat einfach an alles gedacht.“
Der Reformator legte nicht nur fest, worauf die Prediger im Gottesdienst zu achten hatten, sondern gab auch praktische Anweisungen für den Umgang mit Hospitälern, Hebammen, Armenfürsorge, Ehebruch, Prostitution und in besonders großem Umfang mit dem Schulunterricht – bis hin zu der Frage, wie viel ein Lehrer verdienen sollte. „Seine Leistung ist unglaublich“, staunt Jürgen Oesterley. Ulrike Banafsche ergänzt: „Heute würde man sagen: Er war breit aufgestellt.“
Die Kirchenordnung allein ist schon lesenswert, auch für Menschen ohne ausgeprägt christliches Interesse, weil sie viel über das Hildesheimer Leben im 16. Jahrhundert aussagt. Hinzu kommen spannende Artikel über das zeitliche Umfeld, über wichtige Hildesheimer Persönlichkeiten und Bugenhagens Biografie, die so klingt, als könnten kaum zwei Leben ausreichen, um all das zu bewerkstelligen, was er erreicht hat. Immer wieder wurde Bugenhagen, der eigentlich in Wittenberg Pastor war und an der Universität lehrte, vom sächsischen Kurfürsten an andere Städte „ausgeliehen“, um dort die Reformation voranzutreiben.
Auch das reichte Banafsche, Oesterley und Meyer-Wilkens noch nicht, sie wollten zusätzlich einen Bogen in die Gegenwart schlagen. Dafür holten sie sich weitere Autoren ins Boot: Der ehemalige Superintendent Helmut Aßmann fragt sich, ob die Couch dem Beichtstuhl vorzuziehen sei; Jochen Arnold, der Direktor des Michaelisklosters, hört Musik als Gottesklang; Johannes Köhler widmet sich der Marienverehrung; der inzwischen gestorbene Hermann Radvan, ursprünglich Mitinitiator des Projekts, schreibt über den „Bildersturm“ während der Reformation; Landessuperintendent Eckhard Gorka sagt, was es mit einer Ordination auf sich hat; Kurt Giesing hält ein Plädoyer für die alten Sprachen Latein und Griechisch – um nur einige Beispiele zu nennen.
Zusammen ergeben die Texte das facettenreiche Bild eines Ereignisses, das Hildesheim bis in die Gegenwart prägt – weitaus stärker, als man es bis dato wahr- und annehmen konnte. Ralf Neite
Glaube sucht Ordnung – Hildesheim wird evangelisch. Anmerkungen zu Bugenhagens Kirchenordnung. Veröffentlichungen des Hildesheimer Heimat- und Geschichtsvereins, 200 Seiten, ISBN 978-3-8067-8821-1, 19,95 Euro.
Bilder:
Jürgen Oesterley, Ulrike Banafsche und Barbara Meyer-Wilkens haben das Buchprojekt in jahrelanger Arbeit realisiert. Foto: Moras
Lucas von Cranach portraitierte Luther im Kreis der Reformatoren – Bugenhagen gleich rechts hinter ihm.
Hildesheim hat eine Bugenhagenstraße, einen Bugenhagenbrunnen, sogar eine Bugenhagen-Hochschule. Doch nur die wenigsten wissen, wer dieser Mann war und welche Bedeutung er für die Reformation hatte. Der Name Luther überstrahlt alles. Doch nach Norddeutschland – und sogar bis nach Dänemark und Norwegen hinauf – kam die Reformation durch Johannes Bugenhagen. Im Jahr 1542, also 25 Jahre nach Luthers Thesen-Veröffentlichung in Wittenberg, auch nach Hildesheim. Der neueste Band in der Schriftenreihe des Hildesheimer Heimat- und Geschichtsvereins füllt nun die Lücken.
Unter der Überschrift „Glaube sucht Ordnung – Hildesheim wird evangelisch“ erzählen die Autoren über diese turbulente Epoche und wie sie bis heute nachwirkt. Man sollte sich von dem etwas sperrigen Titel nicht täuschen lassen. Das 200-seitige Werk liest sich über weite Strecken wie ein Krimi. Politik und Religion trafen vor rund 500 Jahren vehement aufeinander, persönliche Interessen mischten sich hinein, Kriege verlangsamten die Entwicklung und beschleunigten sie wieder.
Als sich die Historikerin Barbara Meyer-Wilkens und die beiden Pädagogen Jürgen Oesterley und Ulrike Banafsche vor fünf Jahren an die Arbeit machten, ging es ihnen erst einmal darum, etwas längst Überfälliges nachzuholen: Sie wollten die Kirchenordnung, die Johannes Bugenhagen im September 1542 für Hildesheim geschrieben hat, aus dem mittelniederdeutschen Original ins heutige Deutsch übersetzen und damit der Allgemeinheit zugänglich machen.
Alle drei sind keine Sprachwissenschaftler und betonen, dass sie keinen wissenschaftlichen Anspruch erheben. In jahrelanger Arbeit und über mehrere Versionen näherten sie sich dem Text, wobei Ulrike Banafsche mit der Übersetzung des Vorworts von Antonius Corvinus die schwierigste Aufgabe zu meistern hatte. Eine große Hilfe war, dass sie im Internet ein vollständiges mittelniederdeutsches Wörterbuch entdeckte. Trotzdem gab es Probleme, die viel Zeit kosteten – etwa, wie das schlichte Wort „berichten“ zu verstehen sei. „Da haben wir uns richtig die Köpfe heiß geredet“, erzählt Barbara Meyer-Wilkens. Schließlich fand das Trio heraus, dass damit „belehren“ gemeint war. Mit der Arbeit an der Übersetzung sei die Faszination für Bugenhagen immer mehr gewachsen, sagt die Historikerin: „Man hat den Eindruck, er hat einfach an alles gedacht.“
Der Reformator legte nicht nur fest, worauf die Prediger im Gottesdienst zu achten hatten, sondern gab auch praktische Anweisungen für den Umgang mit Hospitälern, Hebammen, Armenfürsorge, Ehebruch, Prostitution und in besonders großem Umfang mit dem Schulunterricht – bis hin zu der Frage, wie viel ein Lehrer verdienen sollte. „Seine Leistung ist unglaublich“, staunt Jürgen Oesterley. Ulrike Banafsche ergänzt: „Heute würde man sagen: Er war breit aufgestellt.“
Die Kirchenordnung allein ist schon lesenswert, auch für Menschen ohne ausgeprägt christliches Interesse, weil sie viel über das Hildesheimer Leben im 16. Jahrhundert aussagt. Hinzu kommen spannende Artikel über das zeitliche Umfeld, über wichtige Hildesheimer Persönlichkeiten und Bugenhagens Biografie, die so klingt, als könnten kaum zwei Leben ausreichen, um all das zu bewerkstelligen, was er erreicht hat. Immer wieder wurde Bugenhagen, der eigentlich in Wittenberg Pastor war und an der Universität lehrte, vom sächsischen Kurfürsten an andere Städte „ausgeliehen“, um dort die Reformation voranzutreiben.
Auch das reichte Banafsche, Oesterley und Meyer-Wilkens noch nicht, sie wollten zusätzlich einen Bogen in die Gegenwart schlagen. Dafür holten sie sich weitere Autoren ins Boot: Der ehemalige Superintendent Helmut Aßmann fragt sich, ob die Couch dem Beichtstuhl vorzuziehen sei; Jochen Arnold, der Direktor des Michaelisklosters, hört Musik als Gottesklang; Johannes Köhler widmet sich der Marienverehrung; der inzwischen gestorbene Hermann Radvan, ursprünglich Mitinitiator des Projekts, schreibt über den „Bildersturm“ während der Reformation; Landessuperintendent Eckhard Gorka sagt, was es mit einer Ordination auf sich hat; Kurt Giesing hält ein Plädoyer für die alten Sprachen Latein und Griechisch – um nur einige Beispiele zu nennen.
Zusammen ergeben die Texte das facettenreiche Bild eines Ereignisses, das Hildesheim bis in die Gegenwart prägt – weitaus stärker, als man es bis dato wahr- und annehmen konnte. Ralf Neite
Glaube sucht Ordnung – Hildesheim wird evangelisch. Anmerkungen zu Bugenhagens Kirchenordnung. Veröffentlichungen des Hildesheimer Heimat- und Geschichtsvereins, 200 Seiten, ISBN 978-3-8067-8821-1, 19,95 Euro.
Bilder:
Jürgen Oesterley, Ulrike Banafsche und Barbara Meyer-Wilkens haben das Buchprojekt in jahrelanger Arbeit realisiert. Foto: Moras
Lucas von Cranach portraitierte Luther im Kreis der Reformatoren – Bugenhagen gleich rechts hinter ihm.